2. Indikationen und Kontraindikationen
Im Folgenden werden Behandlungskriterien für die HPE auf der Basis der vorgenannten Leitlinien definiert, wobei Indikationsstellung, fachgerechte Durchführung, Überwachung und notwendige Dauer festgelegt werden. Eine HPE, die diesen Behandlungskriterien entspricht und ausreichend dokumentiert wird, gilt in der Regel als indiziert.
Grundsätzlich gilt für alle Formen von HPE: HPE sollte denjenigen Patienten verabreicht werden, die ihre Ernährungsbedürfnisse nicht über den oralen und/oder enteralen Weg decken können und die außerhalb des Krankenhauses sicher behandelt werden können (siehe Kapitel 2.1–2.3). Für diese ist HPE eine lebensrettende Therapie.
Darüber hinaus bestehen keine absoluten Kontraindikationen für die Verwendung von HPE, denn ansonsten würden die Patienten (weil orale/enterale Ernährung nicht möglich ist) versterben. Einzelne Kontraindikationen können sich daher allenfalls auf bestimmte Produkte beziehen.
Eine HPE ist in der Regel auch bei Leber- und Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz und Stoffwechselerkrankungen wie Typ-1-Diabetes möglich. Jedoch können diese Erkrankungen mit einer verringerten PE-Toleranz verbunden sein und erfordern möglicherweise sorgfältige und spezifische Anpassungen des HPE-Programms, um den spezifischen klinischen Patientenbedürfnissen gerecht zu werden. Die Angaben in den Fachinformationen zu den Gegenanzeigen des jeweiligen Fertigarzneimittels sind zu beachten, weil es hier durchaus Unterschiede bei den einzelnen Präparaten gibt.
Die Indikation für die Fortsetzung der HPE sollte regelmäßig überprüft werden. Das zeitliche Intervall für diese Überprüfung ergibt sich aus der Art der Grunderkrankung und deren Verlauf. HPE sollte beendet werden, wenn das gewünschte Gewicht erreicht ist und die orale oder enterale Energieaufnahme dem Erhaltungsbedarf entspricht.
2.1 Schwere dauerhafte Darmfunktionsstörung / Chronic intestinal failure (CIF)
Die klassische Indikation für HPE sind schwere dauerhafte Darmfunktionsstörungen (reversibel oder irreversibel), im Englischen chronic intestinal failure (CIF) genannt. Zu diesen Krankheitsbildern gehören unter anderem:
- Kurzdarmsyndrom, insbesondere in der Initialphase, manchmal aber auch lebenslang, wenn auch nach
der Adaptationsphase die Ernährungsbedürfnisse nicht über den oralen und/oder enteralen Weg
gedeckt werden können - hohe inoperable Fisteln, z. B. Duodenalfisteln
- schwere Malassimilation, z. B. bei Morbus Crohn mit Dünndarmbefall und chronisch-aktivem Verlauf
- schwere Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö
- Mangelernährung bei terminaler Niereninsuffizienz, wenn eine orale/enterale Ernährung nicht
ausreichend vorgenommen werden kann; hier sollte die Durchführung einer intradialytischen
parenteralen Ernährung, in der Regel als supplementäre parenterale Ernährung (SPE),
erwogen werden
2.2 Tumorerkrankungen mit Mangelernährung und CIF
HPE sollte bei chronischem Darmversagen aufgrund einer fortgeschrittenen bösartigen Erkrankung verordnet werden, wenn ansonsten ein vorzeitiger Tod durch Unterernährung droht und wenn die Lebenserwartung im Zusammenhang mit der Krebserkrankung voraussichtlich länger als ein bis drei Monate ist.
Zu dieser Personengruppe gehören Patienten mit maligner Grunderkrankung und CIF (z. B. aufgrund von tumorbedingten Obstruktionen, therapiebedingter schwerer Mukositis) oder auch palliativ versorgte Patienten. Die Empfehlungsstärke bei maligner Grunderkrankung ist geringer als bei nicht maligner Erkrankung nach Kapitel 2.1. Dies bedeutet, dass bei maligner Erkrankung eine sorgfältige ärztliche Einzelfallentscheidung erforderlich ist. Art und Stadium der malignen Erkrankung, Alter und Allgemeinzustand des Kranken, eventuell vorliegende Begleiterkrankungen und die Prognose sollten berücksichtigt werden. Wenn die voraussichtliche Lebenserwartung zumindest einen Monat beträgt und ohne HPE ein vorzeitiger Tod durch Unterernährung droht, ist die Indikation wiederum dringlicher, das heißt, in solchen Fällen sollte eine HPE durchgeführt werden.
2.3 HPE ohne CIF in Ausnahmefällen („No-CIF-Szenario“)
HPE kann auch für Patienten ohne chronisches Darmversagen in Betracht gezogen werden, die ihren Ernährungsbedarf nicht über den oralen/enteralen Weg decken können oder wollen. Sie sollten klar über die Vorteile und Risiken von HPE informiert werden.
Dies kann bei Patienten der Fall sein, die medizinische Ernährungstherapie benötigen und die ansonsten wirksame und medizinisch indizierte heimenterale Ernährung (HEE, entspricht ambulanter enteraler Ernährung) verweigern oder nicht bewältigen können. Diese Patienten können Krebs und einen „Port“ für die Chemotherapie haben; alternativ können sie eine therapierefraktäre Dysphagie haben und sich gegen eine HEE entscheiden. Da es in der klinischen Praxis schwierig ist, die Ernährungsunterstützung zu verweigern, kann in diesen Situationen im Einzelfall HPE indiziert sein. Eine sorgfältige Dokumentation der Therapieentscheidung ist anzuraten.
2.4 Kombinationen aus HPE und HEE
HPE kann auch in Kombination mit HEE oder oraler Ernährung eingesetzt werden, wenn HEE oder orale Ernährung möglich, aber zum Erhalt oder zur Verbesserung des Ernährungszustandes und der ernährungsabhängigen Lebensqualität nicht hinreichend sind.
Gegenüber reiner HPE verringert eine Kombination aus HPE und HEE die Kosten sowie die Komplikationen, insbesondere die Gefahr einer bakteriellen Translokation durch einen leaky gut (durchlässiger Darm). Eine kombinierte Ernährungstherapie kann außerdem die Lebensqualität verbessern (Prinzip „orale Ernährung so weit wie möglich“ unter Berücksichtigung von Kontraindikationen wie hohe Aspirationsgefahr).
2.5 Kontraindikationen für HPE
Eine HPE soll nicht durchgeführt werden, wenn
- Patienten und/oder ihre gesetzlichen Betreuer einem HPE-Programm nicht zustimmen
- dadurch weder eine Verbesserung des Körpergewichts/des funktionellen Status noch der
Lebensqualität zu erwarten oder im Verlauf zu beobachten ist - die Lebenserwartung auf weniger als einen Monat geschätzt wird
- es unwahrscheinlich ist, dass Patient und Angehörige die erforderlichen Verfahren zur sicheren
Verabreichung der Therapie verstehen und sich an die Durchführungs-regularien halten, und/oder
wenn es organisatorische/logistische Probleme gibt, die nicht überwunden werden können.
Darüber hinaus kann es Kontraindikationen für einzelne Produkte oder Produkt-Inhaltsstoffe geben (siehe jeweilige Fachinformationen).
Beim absehbaren Übergang aus der Palliativsituation in die Sterbephase sollen Therapieziele der medizinischen Ernährungstherapie im Sinne der Symptomkontrolle neu definiert werden. Die Entscheidung bezüglich der Fortsetzung oder der Beendigung der medizinischen Ernährungstherapie sollen Arzt, Patient und Angehörige gemeinsam nach den Grundsätzen der Bundesärztekammer treffen (https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Recht/Patientenverfuegung_Demenz.pdf).
2.6 Peripher durchgeführte HPE
Bei peripher durchgeführter HPE sind zwei Optionen zu unterscheiden:
a) Über peripher eingeführte Zentralvenenkatheter (peripherally inserted central venous catheters,
PICC) kann eine vollwertige HPE analog zur klassischen HPE über ZVK (central venous access
devices,CVAD) durchgeführt werden. Es gelten dieselben Indikationen wie in Kapitel 2.1–2.4 und
es können dafür dieselben Produkte verwendet werden. Einzige Einschränkung ist, dass dieser Zugang
nur für eine begrenzte Zeit verwendet werden sollte. Laut europäischer Leitlinie können PICCs
verwendet werden, wenn die voraussichtliche Dauer der HPE auf weniger als sechs Monate geschätzt
wird.
b) Über einen peripheren Katheter (Venenverweilkanüle im Arm) kann eine vollwertige HPE nicht
durchgeführt werden. Über periphere Armvenen können lediglich Flüssig-keiten oder niederosmolare
Ernährungslösungen, typischerweise als „periphervenöse Mehrkammerbeutel“ bezeichnet, appliziert
werden. Diese weisen in der Regel eine niedrigere Energiedichte von ca. 0,7 kcal/ml (statt ca. 1,0
kcal/ml) auf. Aufgrund des höheren Thrombophlebitis-Risikos sollte HPE über eine periphere
Venenverweilkanüle nur in wenigen Fällen zur kurzfristigen Überbrückung erfolgen
(siehe auch Kapitel 4.1 „Der parenterale Zugang“).